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Oscar STRASNOY

Es gab Zeiten, und die liegen gar nicht so lange zurück, da fügten sich Komponisten in einen sehr starre Rahmen: Werdegang, Vorlieben, ästhetische Entscheidungen folgten klar erkennbaren Gesetzmäßigkeiten, als wären die Lebenswege vorgezeichnet. Mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und stilistischen Anzweiflungen hat sich die Lage inzwischen jedoch verändert. Was für die ängstliche Anhängerschaft sicherlich unbequem ist, erweist sich für kühne Geister als hochgradig stimulierend. So auch für Oscar Strasnoy, einen ihrer ungewöhnlichen, zuweilen verwirrenden und allemal faszinierenden Repräsentanten.
Er selbst legt seinen Lebensweg wie folgt dar: „Ich wurde in eine jüdische Familie von Agnostikern geboren, die vor Europas Barbarei und Elend flohen. Sie suchte ihr Heil in einem reichen, modernen Land, und das war Argentinien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als ich erwachsen wurde, musste ich mich gegen den argentinischen Provinzialismus zugunsten von Europas Moderne und Reichtum entscheiden.“
Kurz: Oscar Strasnoy wurde am 12. November 1970 in Buenos Aires geboren; er beruft sich auf seine russischen Wurzeln; in seiner Familie gibt es anerkannte Musiker (sein Vater ist Bratschist, ein Onkel und eine Tante sind Komponisten); er empfindet Dankbarkeit gegenüber der Wahlheimat seiner Familie mit ihrem intensiven Kulturleben (wir sprechen von der Zeit vor der Diktatur). Man verkehrte mit dem Polen Witold Gombrowicz, jenen Freund der Familie, den Strasnoy nie kennenlernte, von dem er aber zwei Texte vertonte: Opérette im Jahr 2002 und Geschichte im Jahr darauf. Außerdem gab es starke Musikerpersönlichkeiten vor Ort: Martha Argerich und Daniel Barenboim waren darunter, oder auch Mauricio Kagel, dessen familiärer, persönlicher und künstlerischer Werdegang in vielerlei Hinsicht dem von Oscar Strasnoy ähnelt (der über ihn sagt: „Kagel ist der Gombrowicz der Musik“) – geteilte Ironie …
Geprägt durch seine argentinische Kindheit (erste Studien in Klavier, Komposition und Orchesterleitung am Conservatorio Nacional in Buenos Aires) und früh nicht willens, Tangos zu komponieren und in die Mühlen der „europäischen Standardmusik“ zu geraten, erklärt dieser Strasnoy, dass seine Lage „ein bisschen kompliziert war“ … Und so entscheidet er sich für Europa. Der erste Impuls führt ihn nach Wien, wo er auf eine Zusammenarbeit mit dem Komponisten und Dirigenten Michael Gielen hofft; die kommt einige Jahre später mit Hans Zender an der Musikhochschule in Frankfurt am Main zustande, wo er sich mit Pierre Boulez’ Vokalkomposition Pli selon pli auseinandersetzt. In der Zwischenzeit lässt er sich in Paris nieder, wird zum Studium am Conservatoire National Supérieur de Musique zugelassen und profitiert von den klugen Anregungen von Guy Reibel in der Klasse für Komposition, Elektroakustik und Musikforschung, von Michaël Lévinas und vom verstorbenen Gérard Grisey, der bei seinen ehemaligen Schülern bis heute in lebhafter Erinnerung geblieben ist. Wie Strasnoy schreibt: „Grisey mochte meine Musik, weil ich nicht versuchte, seine Musik zu komponieren“.
Strasnoy spitzt die Ohren, und seine Wahl fällt auf Edgar Varèse, Karlheinz Stockhausen (den Schöpfer von Kontakte, Klavierstück X und Stimmung), György Ligeti und Luciano Berio. Zu seinen Favoriten gehören nach eigenem Bekunden auch György Kurtág und Salvatore Sciarrino. Doch sie sind nur Orientierungsmarken. Strasnoy will seinen eigenen Weg gehen: „Ich habe nicht die leiseste Absicht, einem Zirkel anzugehören.“ In seinem Aktionsbereich haben Dogmen keinen Platz: „Das Konzept der Schule hat mich immer abgestoßen. Der Künstler ist ein Individuum und muss es bleiben. Die Kunstgeschichte besteht nicht aus Regeln, sondern aus Ausnahmen.“ Da ist es nicht verwunderlich, wenn er gegenüber Schoenberg als dem Erfinder einer neuen musikalischen Sprache wenig Nachsicht walten lässt: „Die Zwölftonmusik Schoenbergs ist hundertmal altmodischer als seine freie, atonale Musik.“ Die Regeln des Forschungsinstituts für Akustik/Musik IRCAM sind ihm ebenfalls unerträglich: „Nach zwei Wochen bin ich getürmt. Mir graut vor Musik, die Komponisten in Schablonen steckt.“ Strasnoy trifft Schritt für Schritt seine eigenen Entscheidungen und verfeinert sie als mehrfacher „Composer in residence“: 1999 im Rahmen des Programms „Villa Medici extra muros“, 2001/02 an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart, 2003 in der Villa Kujoyama in Kyoto und 2007 mit einem Guggenheim-Stipendium in New York. Er betätigt sich gelegentlich als Dirigent, führte von 1996 bis 1998 das Orchestre du CROUS in Paris und leitete auch das Orchestre National d’Ile-de-France, das Ensemble 2e2m und das Philharmonische Orchester Nizza. Als Pianist gründete er das Quintett Ego Armand, aber inzwischen ist das Klavierspiel für ihn nicht mehr aktuell. Seine ganze Energie gilt heute dem Komponieren und dem Reflektieren über das Wie und Warum …
Im Mittelpunkt dieser Tätigkeit steht für ihn die Oper, eine nonkonforme Oper sozusagen, das Verhältnis Text–Handlung–Musik. Er arbeitet mit kleinen Ensembles, Textfragmenten, unerwarteten Verläufen. Sein Katalog verzeichnet bereits acht Werke: die Kammeroper Midea (UA in Spoleto, 2000; Wiederaufnahme in Rom), für die ihm von Luciano Berio der Orpheus-Preis verliehen wird; die Oper L’instant (früherer Titel: Ephemera), entstanden im Jahr 2000 und 2008 in Créteil uraufgeführt; dann die schon genannten Opern Opérette und Geschichte auf Texte von Gombrowicz, gefolgt von der „Taschenoper“ Fabula für Contratenor und Viola d’Amore auf einen Text von Alejandro Tantanian, deren Uraufführung in Buenos Aires gefeiert wird; 2010 entstehen schließlich die Oper Le Bal als Auftragswerk für die Hamburgische Staatsoper sowie die Kammeropern Un retour (UA auf dem Festval d’Aix-en-Provence) und Cachafaz nach einer „barbarischen Tragödie“ von Copi, die in einer Inszenierung des Ikonoklasten Benjamin Lazar am Théâtre de Cornouaille in Quimper uraufgeführt und an der Opéra Comique in Paris wiederaufgenommen wird. In diese Kategorie gehört auch die „weltliche Kantate“ Hochzeitsvorbereitungen (mit B und K) aus dem Jahr 2000, die inzwischen ebenfalls inszeniert wurde und in der Strasnoy in einer überraschenden (und überzeugenden) Weise den Text der gleichnamigen Novelle von Franz Kafka mit der Hochzeitskantate von Bach zusammenführt. Über dem Konstrukt steht die Reflexion: „Wenn es schon möglich ist, aus einer Urne, die man freilegt und untersucht, eine ganze Kultur zu rekonstruieren, dann lässt sich erst recht die Entwicklung der Welt beschreiben, wenn man die alten Hochzeitsrituale ausgräbt.“ Dieser Dialog zwischen Bach und Kafka ist für die Arbeitsweise des Komponisten sehr erhellend: Es handelt sich um ein Konstrukt oder genauer um eine Montage oder ein „Drehbuch“, wie Strasnoy selbst sagt. Diese Vorgehensweise macht die Serie „Bloc-notes“ (Notizblock) mit konzertanten Stücken als Fortsetzung anderer Partituren in Form von Skizzen oder Derivaten besonders anschaulich. Aber mehr noch die Serie „Sum“ aus vier autonomen Orchesterstücken: Incipit [Sum 1], Y [Sum 2], Scherzo [Sum 3] und The End [Sum 4]. Hier erweist sich die Montage als besonders raffiniert, da sie in allen vier Komposition darin besteht, mehr oder weniger eindeutig erkennbare Verweise auf bekannte Werke anklingen zu lassen (so die letzten Akkorde von Beethovens 8. Sinfonie in The End) oder Verweise und Huldigungen zu verschachteln, wie in „Sum 2“, wo Strasnoy mit einem Zitat aus Schumanns Warum?, dem drittem der acht Fantasiestück op. 12, dem langsamen Satz „huldigt“.
Formal betrachtet haben wir es hier nicht mit einem musikalischen Mosaik zu tun, sondern mit „musikalischer Urbanität“, wie der Komponist in einem Gespräch mit Dorota Zórawska klarstellt (La stratification de la mémoire, Verlag À la ligne, 2009): „Ich ziehe es vor, ein Werk wie eine Stadt zu begreifen. Das Stadt-Werk unterbreitet ein aus mehreren Werken zusammengesetztes Werk (ein Hyper-Werk), eine Konstellation mit einem Original in der Mitte, um das ein oder mehrere bereits vorhandene Werke oder Werkfragmente kreisen, die einen Gegenstand aus mehreren Blickwinkeln zeichnen.“ Auf Zórawskas Frage im Zusammenhang mit der Verknüpfung Bach/Kafka, wie es möglich sei, zwei Werke zusammenzubringen, die 250 Jahre trennen, lautet Strasnoys Antwort: „In derselben Weise, wie heute in einer Stadt ein modernes Gebäude neben einem Bau aus dem 18. Jahrhundert steht“.
Diese Nachbarschaften, Anspielungen, Verweise bringen eine für Strasnoy ganz zentrale Dimension ins Spiel: die Erinnerung. Sie wird geweckt durch die Musik, die die Fantasie beflügelt und die Schöpfungskraft nährt: „Erinnerungen sind das Einzige, das dem Menschen als Einzelwesen persönlich und ausschließlich gehört“. Und auch das ist schön gesagt: „Die Erinnerung ist das Auge des Musikers“ …
Ein großes Œuvre ist im Entstehen. Es hat schon einige Zustimmung durch Auszeichnungen erfahren – Prix de l’Académie du Disque Lyrique für die Einspielung der Hochzeitsvorbereitungen (mit B und K); Grand Prix de la musique symphonique, SACEM – und Einladungen an prominente Orte nach sich gezogen: Centre Acanthes, Metz, im Juli 2011; „compositeur invité“ des Festival Présences 2012 in Paris. Nebenbei sei noch erwähnt, dass Strasnoy als Mensch mit weitem Horizont (aber ohne besonderes Interesse für Improvisation und „offene“ Werke) etwas für Kabarettlieder übrig hat, wie seine Zusammenarbeit mit Ingrid Caven belegt.


(Claude Samuel)

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Werke, die komponiert wurden von Oscar STRASNOY

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Diskografie

> 2020 / Erato-Warner Classics 0190295323073 - Piano concertos
KULESHOV, pour piano et orchestre de chambre
Les Violons du Roy - Alexandre Tharaud (piano) - Mathieu Lussier (direction)

INCIPIT (SUM N°1), pour orchestre symphonique
Y (SUM N°2)*, pour orchestre symphonique
TROISCAPRICESDEPAGANINI, pour violon et orchestre

Violon : Latica Honda-Rosenberg
Orchestre Philharmonique de Radio France
Direction : Dima Slobodeniouk et Susanna Mälkki*
”Oscar Strasnoy, Orchestral Works” / Aeon 1331

UN RETOUR, pour 7 voix et 6 instruments
Opéra de chambre en un acte en langue française, espagnole et latine, d’après le roman d’Alberto Manguel, «El Regreso» publié aux éditions Actes Sud.
Ensemble Musicatreize, Quatuor face à face
Roland Hayrabedian, direction
Thierry Thieû Niang, mise en scène
Musicatreize / Actes Sud

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BIBLIOGRAPHIE

LA STRATIFICATION DE LA MEMOIRE
Collection À la ligne, éditée par l’Ensemble 2e2m (2009)