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Bedrossian (© Elie Kongs).jpg

Franck BEDROSSIAN

„Überdies …“ / von Omer Corlaix


Im Zeitalter von Wikipedia und anderer sozialer Netzwerke stellt der Übergang von der Privatsphäre zur Öffentlichkeit eine Art Feuertaufe für die Biografie eines Künstlers dar. So lieferte uns der Kritiker der Tageszeitung Le Monde Renaud Machart per Zufall eine Information; in der Freitagausgabe vom 2. November 2008 wunderte er sich, dass in der neuen Datenbank des Forschungsinstituts für Akustik/Musik IRCAM mit dem respekteinflößenden Namen Brahms „mindere oder obskure Komponisten“ wie Franck Bedrossian eine aktuellere Biografie aufweisen als hochangesehene Komponisten wie Luciano Berio oder George Benjamin. Der Schritt vom Unbekannten zum Bekannten ist klein. Schon morgen könnte man ihm vorwerfen, er habe seine Biografie im Who’s Who 2011 noch vor seiner offiziellen Aufnahme in das mondäne Jahrbuch Bottin mondain stehen gehabt.1 Doch glücklicherweise liegt die Epoche des Jockey Clubs hinter uns, der Richard Wagner die Imprimatur verweigerte! Zu seiner Entlastung könnte Franck Bedrossian sich heute rühmen, einen Lehrauftrag für Komposition an der laut „Rangliste von Schanghai 2010“zweitbesten Universität der Welt zu haben, wo doch die beste französische Universität auf Platz 39 gelandet ist! Vielleicht hätten auch wir seine Biografie mit Angaben zu seiner Familie beginnen sollen? Wir möchten uns hier auf eine Bemerkung beschränken, die der 12. Herzog von Brissac in seinen Memoiren La suite des temps gemacht hat: „[…] es gibt keine französische Rasse. Sie [die Franzosen] sprechen nur dieselbe Sprache (alle gleich schlecht), befolgen dieselben Gesetze (alle gleich wenig) und singen dieselbe Hymne (alle gleich falsch) …“.3 Tatsache ist, dass das Jahr 2008 wohl eine Wende im Künstlerleben des Franck Bedrossian bringen könnte, nachdem er sich in die USA aufgemacht hat, um Komposition an der University of California, Berkeley, zu lehren; jenes Jahr, das am 24. Januar mit einer Konferenz im Centre de Documentation de la Musique Contemporaine zum Konzept der „Saturation“ begann, gefolgt von einer Zeit als Composer-in-residence beim Ensemble 2e2m.
Wir fassen die Lehrjahre zusammen. 1998 kommt Bedrossian in die Klasse von Gérard Grisey am Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse (CNSMDP) in Paris und studiert Komposition. Der plötzliche Tod Griseys im November desselben Jahres setzt dem sich anbahnenden fruchtbaren Austausch zwischen Lehrer und Schüler ein jähes Ende. 2001/02 besucht er den Kompositionskurs für elektronische Musik am IRCAM und legt zum Abschluss im Oktober 2002 das Werk Transmission für Fagott und elektronische Musik vor. Aufgrund der zahlreichen Wiederholungen setzte sich dieses als Referenzwerk des Jahrgangs durch. Im darauffolgenden Jahr schließt er sein Studium mit einem Diplom für Komposition am CNSMDP ab und legt das Werk La Conspiration du silence in einer Fassung für 35 Musiker vor. Bevor er als Stipendiat der Villa Medici nach Rom geht, wird sein Fleiß mit mehreren Preisen belohnt.Als Franck Bedrossian im Juni 2006 in Rom ankommt, steht sein Entschluss fest, dass er sein Leben fortan mit Komponieren und Unterrichten bestreiten möchte. Daneben nimmt er sich die Zeit, um über sein Instrumentarium und seinen Ästhetikbegriff nachzudenken. Er nennt das selbst nicht ohne einen Anflug von Ironie „die Zeit der Kritik der Waffen“.Nachdem diese Grundpfeiler gesetzt sind, setzt sich der Komponist wieder an seinen Schreibtisch. In der Villa Medici entstehen 2007 sein erstes Streichquartett Tracés d’ombres für das Quartett Diotima und drei Werke für Blasinstrumente: Propaganda für Saxophon und elektronische Musik in Fortführung von Transmission, Manifesto für ein Oktett aus Blasinstrumenten und Bossa nova für den Akkordeonisten Pascal Contet. Dabei gönnt er sich auch Auszeiten, die er auf Schachturnieren verbringt, und natürlich kann er sich der „Bellezza“6 von Rom und Florenz nicht entziehen. Er macht sich das „republikanische Otium“ zunutze, um seinen Werken den letzten Schliff zu geben, und nimmt sich zum Beispiel Charleston und La Conspiration du silence wieder vor, die er für seine Abschlussprüfung am CNSMDP geschrieben hatte.
Die neue Fassung von La Conspiration du silence, die im März 2009 auf dem Festival Archipel in Genf aufgeführt wurde, leitet eine neue Phase in seinem Schaffen ein. Beim Publikum und bei der Presse kam sie gut an, wie der Kritiker der Genfer Tageszeitung Le Temps Jonas Pulver feststellt: „Ein Streicher-Hauch. Ein Flöten-Wirbel. Eine Harfen-Explosion. Ein Pauken-Vibrato. Bei Franck Bedrossian hinterfragen die Instrumente ihr Unterbewusstes und tauschen die Identitäten, wie um den Mythos des philharmonischen Klangs besser demontieren zu können.“7 Eine Einschätzung, die der Leitartikler der französischen Tageszeitung L’Humanité Maurice Ulrich in seinem gelungenen Porträt abrundet: „Manchmal sucht die Klang-Idee nach ihrem Instrument.“8 Pierre Gervasoni wiederum stellte in seiner Kritik in Le Monde ein Übermaß an entfalteter Energie auf Bedrossians erster Solo-CD fest: „Charleston betätigt fünfzehn Musiker, die von hysterischen Anfällen heimgesucht werden, und geht allmählich über in einen Ausdruck von Reibung und Zerrissenheit; es ist dasselbe Klanggewebe, aus dem auch das Trio Usage de la parole gemacht ist.“ Und er schließt mit einer ersten Synthese: „Bedrossians Musik entrollt sich in schäumendem Furor mit einem angeborenen Sinn für Nuancen.“9 Dieser Sinn für Artikulation und Nuance bestätigt sich in seinem ersten Streichquartett Tracés d’ombres. Über dessen musikalischen Gestus bemerkt Michel Debrocq in der Brüsseler Tageszeitung Le Soir anlässlich der zweiten Aufführung zum Ausklang des Festivals Ars Musica 2007: „Ein Vogel steigt zu höchsten Tönen auf, und dann endet das Stück im an Schweigen grenzenden Gemurmel eines antiken Chors.“10 Den dramaturgischen Aspekt seiner Musik erkannte der bereits zitierte Pierre Gervasoni anlässlich der Uraufführung von Propaganda auf der Biennale Musiques en Scènes in Lyon: „der wilde Reichtum dieser Partitur transzendiert Bedrossians dem Bruitismus verpflichtetes Ideal der Saturation und erreicht eine Form des Heiligen“.11 Den Komponisten interessiert allerdings nicht die klangliche Saturation als solche, sondern die musikalischen Gegebenheiten, die sie hervorbringt. Er selbst führt dazu aus: „Mehr noch als die Saturation interessiert mich das saturierte Phänomen“.12 Nun ist es endlich ausgesprochen, das ärgerliche Wort „Saturation“.
Die „Saturation“ blitzte am heiteren Himmel von La contemporaine über den Umweg der Uraufführung von Division im Juni 2006 auf dem Festival Agora des IRCAM auf und eröffnete einen neuen Klanghorizont. Nur wenigen war klar, was es damit auf sich hatte, aber schon bald waren die Gemüter wie von einem Lauffeuer erfasst. Bekanntlich gilt der Prophet nichts in seinem Vaterland, und so wurde das erste wichtige Gespräch über Saturation im Schweizer Radio Suisse Romande geführt.13 Die lebhafte Reaktion von ihresgleichen überraschte Franck Bedrossian und Raphaël Cendo. Derweil ging It für sieben Instrumente unter den Fittichen des Ensemble 2e2m unbeirrt seinen Weg … Die Saturationsdebatte erreichte sehr schnell das andere Rheinufer. Bedrossian wurde 2009 zur Teilnahme am Berliner Festival MaerzMusik eingeladen, im September desselben Jahres stand sein Werk Swing für elf Instrumente bei den Donaueschinger Musiktagen auf dem Programm. 2010 wurde er anlässlich der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt um ein Konzert gebeten. Auf dem Festival „Der Sommer in Stuttgart“ im August desselben Jahres führte das Ensemble 2e2m abermals It auf. Das Werk hatte im Jahr zuvor in Mexiko auf dem Festival Internacional Cervantino Furore gemacht.14 
„Das musikalisch reichhaltige Konzept der Saturation ist Prozess und Ergebnis zugleich“, so die Einschätzung des Musikwissenschaftlers Dominique Jameux15 zu den drei interdisziplinären Treffen, die CNRS und EHESS rund um dieses Konzept organisierten. Man kann sich auch an die Definition halten, die 2008 anlässlich eines Seminars am CDMC gegeben wurde: „Das saturierte Phänomen in der Akustik ist ein Übermaß an Klangmaterial, an Energie, an Bewegung und Klangfarbe.“16 In die Kategorie der saturierten Klänge fallen die unharmonischen, verzerrten, multiphonen Klänge, das die Flatterzunge nachahmende Berio-Tremolo, die Larsen-Effekte, die Klangparasiten und so weiter. Freilich neigt die serielle Technik zu einem Klangexzess, wie schon Iannis Xenakis und Pierre Boulez seinerzeit klar erkannten. Statt aber darin eine „Klangwand“, ein unüberwindliches Hindernis zu sehen, begreifen die „Saturationisten“ den Zustand der Klanganhäufung als natürliche Bedingung des heutigen Klanges. Dieser Musikbegriff ist auch eine Kritik am vorherrschenden Diskurs der 1990er-Jahre, der unter dem Einfluss des Komponisten Helmut Lachenmann entstand und die „Musique concrète instrumentale“ als Alternative zum „philharmonischen Klang“ hinstellte. Die saturierte Musik sperrt sich gegen eine Vereinnahmung durch das Lachenmann’sche Dilemma zwischen „Geräuschklang“ und „philharmonischem Klang“ und unterbreitet eine Welt komplexer Klänge als Paradigma des 21. Jahrhunderts. Um mit dem Philosophen Jean-Luc Marion zu sprechen, besteht die Stärke dieses Konzepts nämlich darin, dass der komplexe Klang als ein Wuchern der Intuition über die Bedeutung des Klangs an sich begriffen wird.17 Es ist die Weigerung, den Klang in einen vorgefassten Rahmen zu pressen; man lässt ihm die Chance, er selbst zu sein. Den Philosophen parodierend, ließe sich sagen: „Töne werden erst gehört und dann hervorgebracht“.18



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1 Claude Debussy und Olivier Messiaen wurde die Ehre zuteil, in den Bottin mondain aufgenommen zu werden. 
In der Bewertung von 2010 steht die University of California, Berkeley, an der Bedrossian Komposition lehrt, gleich hinter der University of Stanford.
Pierre de Cossé-Brissac, La suite des temps, 1939-1958, Grasset, Paris 1974. Die Cossé-Brissac stellen seit Generationen die Präsidenten des Jockey Clubs!
2003 Prix Hervé Dugardin (SACEM), 2004 Prix Pierre Cardin des Institut de France und 2007 Preis für junge Komponisten der SACEM.
5 In Anspielung auf Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen“.
6 „Wenn man zum ersten Mal unten an der Spanischen Treppe steht, die zur Villa führt, nimmt man ganz deutlich die Offensive des Schönen wahr“, in: Franck Bedrossian, „De l’excès du son“, Ensemble 2e2m, 2008.
Le Temps vom 26. März 2009.
8 L’Humanité vom 11. Februar 2006.
Le Monde vom 1. Juli 2008.
10 Le Soir vom 27. März 2007.
11 Le Monde vom 11. März 2007.
12 Franck Bedrossian, „De l’excès du son“, Ensemble 2e2m, 2008.
13 Radio Suisse Romande, „Musique d’aujourd’hui“, 11. März 2007, Moderator: Bastien Gallet, in: Franck Bedrossian, „De l’excès du son“, Ensemble 2e2m, 2008.
14 Das Festival Internacional Cervantino findet seit 1972 alljährlich im Oktober statt. Das Kulturfestival ist interdisziplinär und die Referenz des südamerikanischen Kontinents.
15 Commentaire, Nr. 130, Sommer 2010; die Zeitschrift wurde von dem Philosophen und Soziologen Raymond Aron gegründet und zählt zu den wenigen Publikationen mit einer Rubrik über zeitgenössische Musik.
16 Raphaël Cendo, „Les paramètres de la saturation“, in: Franck Bedrossian, „De l’excès de son“, Ensemble 2e2m, 2008.
17 Jean-Luc Marion, De surcroît. Études sur les phénomènes saturés, PUF, Paris 2001.
18 „Sprache wird erst gehört und dann gesprochen“, in: Jean-Luc Marion, ebd.

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Konzerte

Kreationen

Werke, die komponiert wurden von Franck BEDROSSIAN

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Diskografie

DISQUES MONOGRAPHIQUES

> 2011 / Aeon AECD1106 - Manifesto
IT, pour 7 instruments
Ensemble 2e2m - Pierre Roullier (direction)
TRACES D’OMBRES, pour quatuor à cordes
Ensemble 2e2m
MANIFESTO, pour 8 instruments à vent
Ensemble 2e2m - Pierre Roullier (direction)
BOSSA NOVA, pour accordéon
Pascal Contet (accordéon)
PROPAGANDA, pour quatuor de saxophones et électronique
Quatuor Habanera

> 2008 / Sismal Records SR003 - Charleston
CHARLESTON, pour 15 musiciens
L’Itinéraire - Marc Foster (direction)
L’USAGE DE LA PAROLE, pour clarinette, violoncelle et piano
Renaud Desbazeille (clarinette) - Florian Lauridon (violoncelle) - David Chevalier (piano)
DIGITAL, pour contrebasse, percussion et électronique
Yann Dubost (contrebasse) - Christophe Bredeloup (percussions)
TRANSMISSION, pour basson et électronique
Brice Martin (basson)

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OEUVRES ENREGISTREES

> 2019 / KAIROS 0015042KAI - Franck Bedrossian : Epigram
EPIGRAM, pour soprano et ensemble instrumental
Klangforum Wien - Donatienne Michel-Dansac (soprano) - Emilio Pomárico (direction)

> 2013 / Neos 11303-05 - Donaueschinger Musiktage 2012 (SACD 1)
ITSELF, pour orchestre
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden & Freiburg - François-Xavier Roth (direction)

> 2010 / Neos 11052 - Donaueschinger Musiktage 2009
SWING, pour 11 instruments

Ensemble Ictus - Georges-Elie Octors (direction)

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BIBLIOGRAPHIE

> 2008 / Collection ”A la ligne”, édité par l’Ensemble 2e2m
FRANCK BEDROSSIAN, DE L’EXCES DU SON